Europa heißt mein „Vaterland“

Von Martin Leipert

Manchmal lohnt es sich Dinge aus großer Distanz zu betrachten. Zum Beispiel unseren Kontinent (der eigentlich keiner ist). Von oben sieht Europa grün aus. Meere, Inseln und schneebedeckte Berge sieht man. Vom Menschen ahnt man wenig. Vor allem aber fällt auf, dass eines fehlt: Grenzen. Aus gutem Grund: Denn Grenzen existieren vor allem in unseren Köpfen.

Unser Kontinent von oben. Wer sieht hier denn Grenzen?

Eigentlich ist Europa grenzenlos

Tatsächlich fallen Grenzen auch dann nicht ins Auge wenn man nah ranzoomt. Ihr Fehlen der großen Errungenschaft der letzten 50 Jahre. Nicht nur ist der Todesstreifen zwischen Ost- und West verschwunden, sondern auch all die Grenzzäune zwischen Nachbarstaaten und die Grenzposten an den Verkehrswegen. Für uns ist es selbstverständlich uns innerhalb Europas frei bewegen zu können. Wer schon etwas älter ist oder außerhalb gereist ist weiß dass das nichts selbstverständliches ist.Früher bedeute die Fahrt zum Gardasee auch: Warten am Brenner. Warten an der Grenzkontrolle.

Aber zurück nach Europa. Auf kaum einem Kontinent haben sich diese Grenzen auch so oft verschoben wie hier. Diese Grenzverschiebungen haben die Menschen lange kaum betroffen. Mit den Grenzen wechselten Könige, Fürsten, Lehensherren, Maßeinheiten und Gesetze. Dinge die zwar den Alltag der Menschen betrafen, aber die keine großen Veränderungen mit sich brachten. Die Menschen blieben meist wo sie waren. Im Zeitraffer kann man die Veränderungen einmal genauer ansehen.

Wirklich von Bedeutung waren die Grenzen nur, wenn der neue Herrscher versuchte den eroberten Gebieten versuchte eine neue Lebensart aufzuzwingen um seine Macht zu sichern. Beispielsweise eine neue Religion. Dass war allerdings kein Automatismus. Im Osmanischen Reich, dem Maurischen Spanien wurden Christen toleriert. Ebenso wie in Kastilien Muslime oder in Teilen Österreich-Ungarns Evangelische oder Orthodoxe.

Neben der in Europa bestehenden religiösen Vielfalt, entstand über die Jahrhunderte auch eine sprachliche. Im heutigen Ungarn leb(t)en neben Maygaren, Deutsche, Juden, Armenier, Slowaken und Roma – jede dieser Minderheiten hat(te) eine eigene Sprache. In Deutschland gibt es heute noch eine dänisch und sorbisch sprechende Minderheit. Auch kulinarisch ist Europa so vielfältig. Und noch erstaunlicher ist, dass sprachliche, kulturelle und kulinarische Grenzen nicht übereinstimmen. Die Küche Böhmens, Österreichs, Bayerns und Frankens ist sich oftmals sehr ähnlich. Ebenso wie „Frankreich“ im kulinarischen Sinne schon in der Pfalz und Baden anfängt, reicht der Einfluss der „deutschen Küche“ weit über das Elsass hinaus.

Bevölkerungsgruppen in Österreich-Ungarn um 1911. Eine bunte Mischung ohne das Korsett von Nationalstaaten.

Der Nationalstaat als Bedrohung für die Vielfalt

Diese kulturelle Vielfalt ist älter als die trennenden Grenzen und älter als der Nationalstaat. Letzterer ist der Grund warum diese Vielfalt zu schwinden begann. Mit dem Aufkommen des Nationalismus und der Zentralstaatlichkeit zur Zeit der französischen Revolution begann auch die Idee von einem „Vaterland“ mit einem ethnisch einheitlichen „Volk“. Letzteres sprach (natürlich) eine gemeinsame Sprache, so dass in der Folge viele Minderheitensprachen akut bedroht waren. In Frankreich sprach man dereinst Bretonisch, Flämisch, Katalanisch, Korsisch und Okzitanisch. Letzteres – die Sprache des Minnegesangs im Mittelalter – einst über gesamt Südfrankreich. Heute steht die Okzitanische Sprache kurz vor dem Aussterben. Weil Französisch die einzige an Schulen verwendete Sprache war und die einzige im Staate verschwanden MInderheitensprachen Stück für Stück. Ein ähnliches Schicksal ereilte Irisch, Schottisch-Gälisch und Walisisch in Großbritannien.

Eine weitaus größere Katastrophe stand aber noch bevor. In der Konsolidierungsphase der Nationalstaaten oder „Vaterländer“ ereigneten sich – neben verheerenden (Welt-)Kriegen – die größten Völkermorde der europäischen Geschichte. Minderheiten die aufmüpfig waren oder verdächtigt wurden mit anderen Nationalstaaten zu kollaborieren. Als der Nationalismus die Türkei erreichte, vertrieben und ermordeten die sogenannten „Jungtürken“ vor allem die „unpassenden“ christlichen Minderheiten der Armenier, Aramäer und Pontier. Ähnliches wiederholte ein entfesselter Deutscher Nationalstaat im Zweiten Weltkrieg und in den Neunzigern in Jugoslawien.

„Es ist unsagbar, was geschehen ist, und noch geschieht. Die vollkommene Ausrottung [der Armenier] ist das Ziel – alles unter dem Schleier des Kriegsrechtes.“

Brief von Johannes Lepsius an seine Frau Alice, August 1915. Lepsius war damals nach Konstantionopel gereist.

Ein vereinigtes Europa als Bewahrer der Vielfalt

Nach all dem Verhängnis das Nationalstaaten über Europa gebracht hatten entstand in Frankreich die Idee der Montanunion mit Deutschland. Nihct zuletzt um den „Feindstaat“ im Griff zu behalten setzten französische Politiker auf die Idee der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Aus dieser idee entstand die heutige Europäische Union und die Bindung der Staaten aneinander wurde enger. So wie es auch die Bindung der Menschen wurde. Nicht zuletzt zwischen Deutschland und Frankreich entstanden viele persönliche Bindungen, diese sind das Fundament des Friedens in Europa. Nicht zuletzt begann die Europäische Union auch Wunden zu heilen, die der Nationalismus geschlagen hat. Mit der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen wurde ein Instrument zum Schutz europäischer Regionalsprachen geschaffen, die deren Existenz auch in Zukunft sichern soll. Indem diese wieder in Justiz und Verwaltung einziehen sollen (auch wenn sich die Umsetzung zieht). Europaregionen fügen sprach- und grenzüberschrieitende Kulturräume wieder zusammen.

Die Europäische Union ist der bessere Platz für die Vielfalt. Europäer zu sein ist nicht gebunden an eine Sprache oder eine der vielen kulturellen Identitäten. Europa verlangt nicht sich einer Nation zugehörig zu fühlen, sondern einer vielfältigen Gemeinschaft in der jede*r ihren/seinen Platz hat.

Auch wenn es in dieser Gemeinschaft noch viel zu tun gibt. Medien sind immer noch zu sehr an Nationalstaaten gebunden und Rgeierungen denken nicht im Sinne einer soldarischen, europäischen Gemeinschaft, sondern in nationalen Egoismen. Die demokratische Mitbestimmung und der Parlamentarismus in der Europäischen Union sind nach wie vor ausbaufähig. Doch ich finde die Vertiefung der europäischen Einigung den richtigen Weg um Europas Vielfalt zu bewahren. Wenn wir eines Tages die Nationalstaaten überflüssig machen, werde ich denen keine Träne hinterherweinen. Ein „Europa der Vaterländer“ mit nationalen Monokulturen brauche ich nicht.

Long live Europe! Vive L’Europe! Lang lebe Europa! Viva Europa!

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